Osteopathie am Ende des Lebens

Ein Fach- und Erfahrungsartikel

Osteopathie am Ende des Lebens

Osteopathie in der letzten Phase des Lebens ist eher noch eine Seltenheit, obwohl Osteopathie und Palliativmedizin meiner Meinung und Erfahrung nach super zusammenpassen. In diesem Artikel möchte ich aufzeigen, wieso das so ist und dafür plädieren, das Thema Tod und Sterben (wieder) mehr in unsere Mitte zu holen.

Was Osteopathie am Ende des Lebens für mich bedeutet

Osteopathie am Lebensende bedeutet für mich, mich der Fülle des ganzen Lebens vom ersten bis zum letzten Atemzug zu öffnen. Mit all seinen Höhen und Tiefen, mit all seinen Facetten, mit allen Farben, Tönen und mit allem, was sonst noch dazu gehört. Ganz zu leben, nichts auszuklammern. Tiefe, das war schon immer mein Ding. Ich will wissen, was dahintersteht, möchte fühlen, egal, was es ist. Ich möchte die volle Erfahrung, ohne Kompromisse. Dabei sein, wenn es gegen Ende geht. Wenn die letzten Atemzüge genommen werden. Wenn es nichts mehr zu tun gibt und doch eigentlich auch manchmal noch so viel. Wenn das Leben größtenteils hinter und nicht vor einem liegt, wenn der Körper vieles nicht mehr kann und doch noch genug, um die letzten Tage, Wochen, Monate zu erleben und zu fühlen - eine Zeit, in der es bis zum letzten Atemzug immer noch eine Zukunft des Lebens gibt. Und ich liebe es, in dieser wahnsinnig sensiblen Phase plötzlich Teil der Geschichte eines fremden Menschen zu werden. Berühren und Berührt-Werden von Körpern, die schon so Manches erlebt haben, was ich mir kaum ausmalen kann. Andere Zeiten, andere Menschen, andere Geschichten als die meine. In Kontakt zu treten mit diesen Menschen und da zu sein mit allem, was ich in dem Moment bieten kann. Da zu sein, wenn sich die Verbindung aus Körperlichem und Nicht-Körperlichem auflöst und die Grenzen nicht mehr klar sind. Wenn außergewöhnliche und doch eigentlich gewöhnliche unerklärliche Dinge passieren und ich eines Tages wieder zurück auf Station bin und anstelle von meiner Patientin liegt dort im Bett nur noch eine leere Hülle. Es macht mir bewusst: welch ein Geschenk dieses Leben ist und jeder Atemzug darin. Jede Bewegung, jede Berührung, jeder Atemzug kostbar. Und was ist Zeit, am Ende des Lebens. „Zu früh“ wird oft gesagt. Wer misst, was ein guter Zeitpunkt, ein gutes Leben ist? Geschenkt ist uns sowieso jeder Moment. Und ich nehme alles in mich auf. Ich weiß noch nicht genau, welche Pflanze daraus erwachsen wird, aber viele Samen sind schon gesät und mein Herz zieht mich dorthin.

Wie kam ich zu dieser Arbeit?

Durch mein Stipendium während des Osteopathiestudiums nahm ich an einem studierendengeleiteten Workshop zum Thema Palliativmedizin teil, einem Bereich, in dem ein multidisziplinäres Team gemeinsam für die Patient:innen arbeitet. Mir kam sofort in den Kopf, dass in so ein Team doch eine Osteopathin perfekt hineinpassen würde. Begeistert und berührt von dem palliativen Ansatz machte ich meine Famulatur am Uniklinikum Mainz auf Palliativstation und durfte dort sogar teilweise osteopathisch tätig sein. Insbesondere die feinfühlige und empathische Gesprächskultur und der achtsame Umgang mit den Patient:innen beeindruckte mich nachhaltig. Während eines Praktikums an der École Supérieur d’Ostéopathie in Paris durfte ich auch dort an zwei Praktikumstagen mit Dozierenden auf Palliativstation Patient:innen osteopathisch behandeln. Das Thema hatte mich gepackt und ließ mich nicht mehr los. Ich beschloss, mich an meinem zukünftigen Wohnort Lüneburg einfach initiativ zu bewerben – und es klappte. Seit 2019 gehöre ich zum Team der Palliativstation im Lüneburger Krankenhaus. Ein bis zweimal pro Woche behandle ich dort Patient:innen auf ihren Zimmern, meist in ihren Betten, als selbstständige osteopathisch tätige Heilpraktikerin.
Doch mein Weg ist eher ungewöhnlich, wie ich zunehmend festgestellt habe. Wie sieht es außerhalb von meinem Einsatz in Deutschland aus mit der Osteopathie im Rahmen der Palliativmedizin?

Aktuelle Situation: Der Tod und die Osteopathie in Deutschland

Osteopathie und Palliativmedizin sind bisher kaum und selten miteinander verbunden. In allen anderen Lebensphasen -und bereichen ist die Osteopathie mittlerweile relativ bekannt, nicht jedoch, wenn es gegen Ende des Lebens geht. Dies betrifft nicht nur die Sichtweise der Patient:innen, sondern auch die Fachkreise der Osteopathie. Fortbildungen, Studien und Literatur gibt es wenige. Es scheint ein eher selteneres Interesse zu sein, sich mit dem Älterwerden, dem Sterben und dem Tod zu beschäftigen oder zumindest gibt es kaum Angebote oder Austausch darüber.

Warum ist das so?

Das liegt vermutlich an verschiedenen Faktoren, die dies begünstigen: ich glaube, dass der größte Faktor ist, dass das Thema Tod und Sterben in unserer Kultur immer noch ein Tabuthema ist. Und das, obwohl wir alle sterben und wir auch vor unserem Tod bereits mit dem Tod anderer Menschen konfrontiert werden. Trotzdem tun wir oft so, als würde es ihn nicht geben. Der medizinische und technische Fortschritt macht uns vor, wir könnten den Tod besiegen oder ihn zumindest ein Stück in die Zukunft zu schieben, um uns heute nicht damit beschäftigen zu müssen. (1)

Auch strukturell ist es für Osteopath:innen herausfordernder als in anderen Kontexten, im Bereich der Palliativversorgung tätig zu sein. Denn der Tod wurde größtenteils in Krankenhäuser, Pflegeheime und Hospize verlegt (2) und in diesen Strukturen ist es schwierig, als Osteopath:in tätig zu sein. Da Osteopathie eine Heilkunde ist, darf sie nur von Ärzt:innen oder Heilpraktiker:innen ausgeführt werden. Der weitaus größere Anteil der Osteopath:innen machen jedoch die Heilpraktiker:innen aus. In der Zusammenarbeit von osteopathisch tätigen Heilpraktiker:innen und Ärzt:innen in Krankenhäusern und Hospizen entstehen unterschiedliche rechtliche Konflikte, die es zu überwinden gilt. Eine Festanstellung von Heilpraktiker:innen wird erschwert, da Leistungen von Heilpraktiker:innen nicht im Sozialgesetzbuch 5 enthalten und zusätzlich sogar ausgeschlossen sind, was etliche organisatorische Hürden bezüglich der Kostenerstattung mit sich bringt. Erschwert wird die Situation zusätzlich, da einige Landesärztekammern in ihren Berufsordnungen eine Zusammenarbeit der beiden Berufsgruppen immer noch als Verbot interpretieren, was dazu beiträgt, dass dieses Dogma weiterhin aufrechterhalten wird. Einige Krankenhäuser und Hospize umgehen dieses Problem und genehmigen Hausbesuche, was das Arbeiten als Heilpraktiker:in in den Einrichtungen zwar ermöglicht, jedoch die Festanstellung verhindert und somit die Frage nach Weisungsrechten nicht löst. Wenn diese rechtliche und strukturelle Hürde jedoch überwunden ist, und osteopathische Kreise dem Thema gegenüber offen sind, dann können „Osteopathie“ und „Palliativmedizin“ wunderbare Partner sein.

Warum? – Gemeinsamkeiten von Osteopathie und Palliative Care

Palliativmedizin ist ein Bereich innerhalb der Medizin, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht und Lebensqualität wichtiger gewertet wird als Lebensquantität. Der Mensch wird als Individuum betrachtet, und seine Bedürfnisse auf verschiedenen Ebenen werden erfasst und soweit möglich in die Behandlung integriert. Es gibt ein interdisziplinäres Team, das auf Augenhöhe für die Patient:innen und deren Angehörige zusammenarbeitet. Dieser ganzheitliche Ansatz nennt sich Palliative Care (3). In solch ein interdisziplinäres Palliativteam passt ein:e Osteopath:in meiner Meinung nach perfekt, da die gleichen Grundwerte und Ansichten geteilt werden, die Osteopathie aber nochmal ergänzende Ansätze bereithält, die in anderen Bereichen nicht oder nicht so sehr abgedeckt werden.

Warum kann Osteopathie eine Bereicherung für die Palliativversorgung sein?

Wo die Palliative Care einen Mantel umlegt (lat. „palliare“ Mantel), da legt die Osteopathie die Hände an den Menschen. -

Osteopathie ist eine Behandlungsmethode, die mit den Händen und ganz ohne Medikamente erfolgt. Die Basis von Osteopathie ist das Fühlen, unser erster Sinn. Über das Nicht-Sprachliche findet eine Verbindung aus Berühren und Berührt-Werden gleichzeitig statt. Nicht nur am Ende des Lebens, aber vielleicht besonders dann, ist es schwer, das Erlebte in Worte zu fassen und das ist auch nicht nötig. Es darf gefühlt werden, ganz ohne Worte. Dies ist ein Aspekt, der die Osteopathie in dieser Lebensphase so wertvoll macht oder machen kann. Da sie Orte erreicht, die über Worte nicht erreicht werden können, entweder weil es nicht in Worte zu fassen ist oder weil es jenseits dessen liegt, was mit Sprache erfasst werden kann. Natürlich darf trotzdem gesprochen werden. Lang und ausgiebig oder kurz und knapp. Vor, während oder nach der Behandlung. Aber es muss nicht sein. Weil die Basis einer osteopathischen Behandlung keine Worte, sondern eine sanfte Berührung mit den Händen darstellt.

In der osteopathischen Behandlung wird der Fokus darauf gesetzt, den zu behandelnden Menschen als Ganzes wahrzunehmen. Auch in spezifischeren Prozessen, wie zum Beispiel während einer Behandlung an der Leber, bleibt ein Teil der Aufmerksamkeit immer auf den ganzen Menschen gerichtet. Ich betrachte und fühle (so gut ich kann) aus dem Herzen und nicht aus dem Kopf heraus. Die Hände sind in der Behandlung dann die Verlängerung des Herzens. Das ist ein Großteil der inneren Ausrichtung, die ich während meiner Arbeit einnehme.

Was ist bei Osteopathie am Lebensende anders als in vorherigen Abschnitten des Lebens?

Eigentlich nichts und doch vieles: Die Grundsätze sind immer gleich, die Ausführung aber immer individuell an die Situation und die Patient:innen angepasst. Im Bereich der osteopathischen Palliativversorgung werden High-Velocity Low-Amplitude Techniken („Einrenken“) nicht angewandt (zu hohes Risiko von Knochenbrüchen oder sonstigen Verletzungen) und auch andere Annäherungen, die mit mehr Kraftaufwand verbunden sind, werden ausgeklammert. Die Behandlungen finden in der Regel im Bett statt. Die angewandten Griffe sind grundsätzlich sanfter Natur und angepasst an den Zustand des Patienten. Eine Behandlung kann daher auch in ihrer Länge stark variieren.

Warum kann eine osteopathische Behandlung am Ende des Lebens sinnvoll sein?

Das Ziel der Osteopathie ist immer das Gleiche, egal ob einen Tag nach der Geburt oder einen Tag vor dem Tod. Es geht darum, die Gesundheit/die Physiologie zu unterstützen. Dies kann im Einzelnen alles bedeuten, jedes Körpersystem und jedes Organ betreffen. Es kann bedeuten, den Umgang mit einem Symptom zu verbessern, aber auch, dass ein Symptom selbst sich verändert.
Laut einer Studie (der einzigen, die ich zu dem Thema gefunden habe), die osteopathische Behandlungen im Kontext der Palliativmedizin untersuchte, konnten verschiedene Faktoren positiv beeinflusst werden: Schmerz, subjektives Wohlbefinden und andere nicht schmerzbezogene Symptome (4). Die Fallzahl in der Studie war jedoch zu gering, um valide Aussagen zur Effektivität von Osteopathie im Bereich der Palliative Care zu treffen. Ein erster Hinweis lässt sich dadurch jedoch vermuten.

Osteopathie in der letzten Lebensphase kann auch bedeuten, den Sterbeprozess oder vorangehende Prozesse zu unterstützen und einen subjektiv „guten Tod“ zu ermöglichen (ein friedvoller und ruhiger Sterbeprozess). Das bedeutet nicht, dass der Tod herbeigeführt wird, sondern dass das nicht mehr da ist, was dem vorher im Wege stand. Es bedeutet, Unterstützung zu erhalten, mit möglichst wenig Widerstand durch diese herausfordernde Zeit zu gehen und Heilung zu erfahren, teilweise auch unabhängig von der vorherrschenden Krankheit oder des bevorstehenden Todes.

Viele Patient:innen erklären mir, dass sie todkrank sind, wenn ich ihnen eine osteopathische Behandlung anbiete. Sie denken, dass sie nur für „heilbare Menschen“ gedacht sein muss. Für mich gibt es keinen Zeitpunkt im Leben eines Menschen, in dem eine osteopathische Behandlung nicht wertvoll sein könnte. Die einzige Notwendigkeit ist, dafür – zumindest ein bisschen – offen zu sein.

Zusammenfassung

Osteopathie und Palliativmedizin ist noch eine sehr seltene Verbindung, vermutlich aus gesellschaftlichen, rechtlichen und strukturellen Gründen, was aber genauer erforscht werden müsste. Inhaltlich bilden die beiden jedoch eine perfekte Symbiose und Osteopathie könnte eine Bereicherung für viele multidisziplinären Teams auf Palliativstationen oder in anderen Settings sein.

Ausblick

Mein Ziel ist es, etwas dazu beizutragen, das Thema Tod und Sterben noch mehr zu enttabuisieren und die klassische und komplementäre Medizin einander näher zu bringen. Ich träume von einer Welt, in der wir wieder mehr in den Fluss kommen von Kommen und Gehen. Von einer Welt, in der es wieder normaler geworden ist, über den Tod, Trauer und Vergänglichkeit zu sprechen und uns mit diesen Themen tatsächlich auseinander zu setzen. In der wir den Tod mehr annehmen können, unseren eigenen, den von anderen, aber auch den von Ideen und alten Zeiten und unser Leben dadurch an Tiefe, Fülle und Demut gewinnt. Mein größter Traum ist es, eines Tages ein Hospiz oder eine Palliativstation mit osteopathischer Grundhaltung zu eröffnen, in der osteopathische Behandlungen das normalste der Welt sind und sich die klassische und die komplementäre Medizin ergänzen.

Münz Eilika, HP

Eilika Münz arbeitet seit 2019 als osteopathisch tätige Heilpraktikerin in einer Praxisgemeinschaft und auf Palliativstation im Städtischen Klinikum Lüneburg. Auf Wunsch begleitet sie Patient:innen (nach ihrem Aufenthalt auf der Palliativstation weiter) im Hospiz oder zuhause. 2022 eröffnete sie ihre eigene Praxis „manucora“. Sie ist Mitglied in der Berufsvereinigung für heilkundlich praktizierte Osteopathie e.V. (hpO) und in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP).

Kontakt:

manucora – Praxis für Osteopathie Eilika Münz

Marcus-Heinemann-Str. 26

21337 Lüneburg

01590 19 625 20

hallo@manucora.de


 

Ich freue mich sehr über einen Austausch mit anderen Heilpraktiker:innen und insbesondere osteopathisch tätigen, die Patient:innen am Lebensende begleitet haben oder dies (regelmäßig) an welchem Ort auch immer tun. Herzliche Grüße Eilika

Münz Eilika, HP

Literatur

1) Stolberg, M. (2011). Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute. Frankfurt: Mabuse-Verlag, 261-265.

2) Schäfer, D. (2015). Der Tod und die Medizin. Kurze Geschichte einer Annäherung. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag, 165-168.

3) Bausewein, Prof. Dr. C., Simader, R. (2020). 99 Fragen an den Tod. Leitfaden für ein gutes Lebensende. München: Droemer Verlag. 90.

4) Terra, A., Derrick, J., Westfall, E., et al. (2022). Patient Perceptions of Osteopathic Manual Therapy (OMT) and Impact of OMT on Symptom Outcomes When Added to Standard Palliative Intervention. Journal of Pain and Symptom Management, Volume 63, Issue 5, May 2022, 875-876; DOI: doi.org/10.1016/j.jpainsymman.2022.02.071