Interview mit Thomas Michael Haug über Salutogenese

Gesundheitswissenschaftler Thomas Michael Haug hält im Rahmen der diesjährigen Mitgliederversammlung einen Impulsvortrag über „Salutogenese. Vom Schlagwort zur therapeutischen Wirklichkeit“.
Wir haben Thomas Michael Haug hierzu interviewt.

Thomas, wir freuen uns auf deinen Vortrag am 14. Oktober in München. Du bist Gesundheitswissenschaftler. Was genau ist das und womit beschäftigt sich ein Gesundheitswissenschaftler? 

Gesundheitswissenschaften ist ein Sammelbegriff, der alle wissenschaftlich begründeteten Fächer, die sich mit Gesundheit beschäftigen, vereint.
Im Alltag wird mit einem Gesundheitswissenschaftler allerdings meistens ein Public-Health-Experte verbunden, der sich in erster Linie mit Fragen der Bevölkerungsgesundheit befasst.

Ich selbst habe psychosoziale Gesundheitswissenschaften studiert und beschäftige mich mit psychischen sowie sozialen Einflüssen auf Gesundheit und Krankheit. Neben Forschungstätigkeiten zu Themen der Patientenkooperation und Gesundheitskompetenz halte ich verschiedene Lehraufträge zu Themen der Gesundheitsförderung, Prävention, Gesundheitsbildung und Gesundheitssoziologie.

Als Berater begleite ich Unternehmen und Gesundheitseinrichtungen zu Fragen der Stressbewältigung und Umsetzung des Salutogenese-Modells in die berufliche Praxis – im Rahmen der gesundheitsförderlichen Projekt-, Personal- und Organisationsentwicklung.

Du bist Experte für Salutogenese und wirst für hpO-Mitglieder und Gäste einen Impulsvortrag über „Salutogenese. Vom Schlagwort zur therapeutischen Wirklichkeit“ halten. Was dürfen die Teilnehmer von dir erwarten?
Eine abwechslungsreiche Reise durch die Welt der Gesundheitsforschung. Dabei möchte ich im ersten Teil den Ansatz der Salutogenese vorstellen und zeigen, welcher Perspektivenwechsel sich daraus für die Gesundheitsversorgung ganz allgemein ergeben hat.

Im zweiten Teil werde ich die Brücke zur therapeutischen Praxis schlagen und Impulse für die Umsetzung im beruflichen Alltag geben. Aaron Antonovsky, der Begründer der Salutogeneseforschung, war dabei ein ausgesprochen kritischer Geist. Gerade sein für den Therapiealltag völlig ungewöhnlicher sozialwissenschaftlicher Zugang und der „abweichende Blick“ der salutogenen Orientierung wie er das nannte, eröffnet den Praktikern ein großes Potenzial für die Heilkunde.

Freilich bedarf es dafür einer Übersetzungsleistung – die der Begründer des Modells selbst nicht vorgenommen hat. Besonders spannend ist hierbei die zentrale Bedeutung von Sinn in den Arbeiten Antonovskys und sein Verweis auf Viktor Frankl, dem Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie.

Salutogenese hat vor diesem Hintergrund etwas ganz Besonderes zu bieten, das für die therapeutische und gesundheitsförderliche Praxis von unschätzbarem Wert ist: Der Zugang erklärt sehr anschaulich was die zentrale Motivation eines Menschen ist, etwas zu tun oder zu lassen. Patientenverhalten lässt sich damit viel leichter nachvollziehen und Patientenkooperation viel effektiver gestalten.

Der Begriff Salutogenese wird gern als Schlagwort verwendet, wenn es darum geht, die Osteopathie zu definieren. Was aber genau verbirgt sich hinter diesen Begriff?
Der Begriff setzt sich aus einem griechischen und einem lateinischen Wort zusammen – er bedeutet wörtlich übersetzt in etwa: „Gesundheitsentstehung“. Dahinter verbirgt sich ein sehr einflussreicher Forschungsansatz, den der Medizin- und Gesundheitssoziologe Aaron Antonovsky schon in den 1970er Jahren begründet hat.

Vereinfacht formuliert geht es dabei um ein differenziertes Stressmodell, mit dem sich sehr gut zeigen lässt, das es vor allem unsere Ausstattung mit Ressourcen ist, die darüber entscheidet, ob wir auf einem sogenannten Gesundheit-Krankheit-Kontinuum mehr in Richtung Gesundheit oder mehr in Richtung Krankheit gehen.

Diese Ressourcen sind letztlich alle Einstellungen, Mittel, Wege und Fertigkeiten, die uns im Alltag helfen, Anforderungen konstruktiv zu bewältigen.

Wenn sie ausreichend vorhanden sind, entwickeln wir ein stabiles „Kohärenzgefühl“ dem Leben gegenüber. Sprich die innere Orientierung, dass das Leben uns als halbwegs verstehbar, gut zu bewältigen und vor allem emotional bedeutsam erscheint – eben sinnvoll. Dieses Gefühl von Stimmigkeit im Leben – der „Sense of Coherence“ – ist das Kernstück des Salutogenesemodells, es ist die Schlüsselantwort auf die Frage, wie Gesundheit entsteht.

Du wirst den aktuellen Forschungsstand zum Salutogenese-Modell vorstellen. In zwei Sätzen zusammengefasst, wie ist der aktuelle Forschungsstand?
Sehr salopp formuliert: Salutogenese ist das am meisten zitierte und am wenigsten beachtete Modell in unserem Gesundheitssystem, wenn es um das Thema Gesundheit geht.

Trotz berechtigter Kritik an einzelnen Aspekten des Modells ist es immer noch der am besten untermauerte wissenschaftliche Erklärungszugang für die Entstehung von Gesundheit – nicht ohne Grund bauen praktisch alle zentralen Strategien zur Gesundheitsförderung auf der salutogenen Orientierung auf.

Und wie lässt sich das von dir vorgestellte Salutogenese-Modell in der osteopathischen Praxis umsetzen?
Salutogenese wird gerne als Perspektivenwechsel beschrieben, von der Defizitorientierung – mit dem Blick auf die Krankheit – hin zur Potenzialorientierung, mit Blick auf die Ressourcen. Dabei kommt der Begriff der „Schatzsuche“ ins Spiel. Die salutogene Orientierung ist im therapeutischen Alltag vor allem mit einer wertschätzenden Haltung verbunden. Konkret bedeutet das mehr Aufmerksamkeit für die alltägliche Lebenswelt und Biografie des Patienten, für seine Geschichte, seine Person, seine Werte oder seine Ressourcen.

Als Osteopath kann ich da sehr viel tun, um die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und emotionale Bedeutsamkeit des eigenen Tun und Lassens im Therapieprozess für Patienten bewusster zu gestalten. Dialogorientierte Patientenkommunikation und die systematische Stärkung von Ressourcen sind die Schlüsselfertigkeiten in einer salutogenen Praxis.

Eine aktuelle Renaissance erfährt die Salutogenese durch die große Bedeutung von „Health Literacy“ (Gesundheitskompetenz) in therapeutischen Settings. Das Kohärenzkonstrukt liefert hier wichtige Orientierungshilfe zum Aufbau und zur Gestaltung gesundheitskompetenzförderlicher Praxen.

Thomas, vielen Dank für das Interview. Wir freuen uns auf deinen Vortrag und die anschließende Dialogrunde!


Thomas Michael Haug: „Salutogenese. Vom Schlagwort zur therapeutischen Wirklichkeit“.
90-minütiger Impulsvortrag mit anschließender Dialogrunde.
München, 14. Oktober, ab 14.30 Uhr.

Kostenlose Teilnahme für hpO-Mitglieder.
Teilnahmegebühr für Nicht-Mitglieder: 45 Euro.    
Teilnahme nur auf Anmeldung per E-Mail: contact@hpo-osteopathie.de

Im Anschluss an den Vortrag und die Dialogrunde findet ab 18.00 Uhr die diesjährige ordentliche Mitgliederversammlung statt.