Babys und Kinder aus osteopathischer Sicht:<br>Ein Interview mit Karin Ritter

Karin Ritter ist osteopathisch arbeitende Heilpraktikerin mit eigener Praxis in Dinkelsbühl und hat sich auf die Behandlung von Babys und Kindern spezialisiert. Seit mehreren Jahren bietet sie hierzu Fortbildungen, Seminare und Vorträge an.
Karin Ritter ist Autorin von zwei Elternratgebern, „Baby-Nöte verstehen“, 2014 und „Neuromotorisch fit“, 2017, beide im Trias Verlag erschienen.

Karin, du bietest Mitte Juni einen zweitägigen Kurs über Baby- und Kindernöte in München an. In deinem neuen Kurs geht es nun ergänzend um das Kindergarten- und Schulkind. Was sind klassische Probleme bei Kindern in dem Alter?

Klassische Probleme im Kindergarten- und Schulalter sind Wutanfälle und Verhaltensauffälligkeiten, Zappeligkeit, Konzentrationsmangel, Sprachprobleme, der gesamte HNO-Bereich wie Schnupfen, Polypen und Mittelohrentzündungen, Wachstumsschmerzen und Ein- und Durchschlafstörungen.
 
Die meisten Kinder fallen oft erst im Kindergarten oder in der Schule wirklich auf, weil dann von ihnen etwas verlangt wird, das über das „ich habe keine Lust“ hinausgeht. Von den Kindern wird im Kindergarten oft zum ersten Mal wirklich eingefordert, z.B. dass sie im Stuhlkreis ruhig sitzenbleiben oder dass sie sich an Regeln halten. Auch die Auseinandersetzung mit anderen Kindern muss das Kind oft zum ersten Mal alleine ohne Unterstützung der Eltern meistern. Dafür soll es angemessen sprechen und formulieren können und nicht die Kraft seiner Hände nutzen oder schreien müssen. In der Schule werden diese Grundfähigkeiten vorausgesetzt. Dazu muss das Kind Herr seines Körpers sein, frühkindliche Reflexe und häufig daraus resultierendes Fehlverhalten und deren Folgen dürfen das Kind nicht mehr hemmen. Die Funktion der Sinnesorgane, die Reizverarbeitung, die Reflexhemmung und die Körperhaltung für die Aufrichtung müssen gewährleistet sein, damit das Kind den Anforderungen in Kindergarten und Schule gewachsen ist.
 
Davon abgesehen ist es auch für die Gesundheit des Kindes wichtig, dass z.B. Streckmuster nicht mehr die Haltung des Kindes prägen. Denn wenn das Kind nachts mit überstrecktem Kopf schläft, bleibt der Mund offenstehen, die Folge ist Mundatmung, eine verstopfte Nase besonders morgens, und das Schlucken mit verstopfter Nase führt zu Unterdruck in den Ohren und damit auf Dauer zu Mittelohrentzündungen. Aber das ist nur ein Beispiel von vielen, wie die Körperhaltung des Kindes seine körperliche Gesundheit beeinflusst.
 
Dein Kurs stellt die osteopathische Sicht auf Babys sowie Kindergarten- und Schulkinder vor. Was macht diese osteopathische Sicht besonders?
Das besondere an meinem Ansatz ist die absolute Koppelung von körperlichen Möglichkeiten mit dem Verhalten und der Gesundheit der Kinder (und das gilt auch oft für Erwachsene).
 
Das Verständnis für das Wohlergehen von Kindergarten - und Schulkinder kann meiner Ansicht nach erst entwickelt werden, wenn wir die neuromotorische Entwicklung des Ungeborenen und des Babys und der Familie als Ganzes betrachten. Das eine folgt aus dem anderen.
 
Nur ein Beispiel: Wenn ein Baby im Bauch immer in derselben Haltung lag und mit äußerem Einfluss entbunden wurde, kann es sein, dass es seinen Kopf nicht gut drehen kann und viel überstreckt. Kopf - und Augenbewegung hängen unmittelbar zusammen.
 
Es wäre doch verrückt, wenn Kinder nicht lesen können, nur weil die Augen einem sich bewegenden Gegenstand nicht folgen können, weil die Kopfdrehung von Anfang an eingeschränkt war. Wenn ein Kind nicht ruhig auf dem Stuhl sitzen oder mit den Eltern kuscheln könnte, nur weil es noch ein Streckmuster im Körper hat. Wenn ein Kind Stirnkopfschmerzen hat, nur weil es seinen Kopf im Sitz und im Stand nicht heben kann, um nach vorne zu schauen. Das könnte ich fast endlos weiter fortführen.
 
Zwei wesentliche Begriffe, um die es in deinem Kursteil über Kinder geht, sind Reflexe und Bewegungskompetenz. Inwiefern sind Reflexe so wichtig?
Vor allem die frühkindlichen Reflexe beeinträchtigen das Verhalten des Kindes. Früher hieß es, dass diese Reflexe nur bestehen bleiben, wenn eine zentrale neurologische Schädigung besteht. Das stimmt aber nicht. Ein kleines Beispiel: Sie stehen in der Menschenmenge und es ertönt ein sehr lautes Geräusch. Einige werden furchtbar erschrecken und andere denken sich nur, was soll das denn?, und bleiben ruhig stehen und schauen sich um. Die furchtbar Erschrockenen haben noch einen ausgeprägteren Moro-Reflex. Reflex heißt, unser Körper folgt nicht unserer bewussten Steuerung, sondern er reagiert in einer nicht geplanten Reflexantwort.

Es gibt aber auch wichtige Reflexe, um sich zu schützen, z.B. der Stützreflex oder das Zwinkern der Augen, oder der symmetrisch-tonische Nackenreflex, um den Vier-Füßerstand mit 7-9 Monaten als Voraussetzung zum Krabbeln zu erlernen. Reflexe muss man differenziert betrachten und das ist super interessant und sehr lehrreich und ausgesprochen hilfreich!
 
Und was bedeutet Bewegungskompetenz und warum ist auch diese so wichtig?
Bewegungskompetenz bedeutet für mich, dass der Mensch seinen Körper beherrscht und alles damit tun kann, was er bewusst tun will und unbewusst tun muss. Dafür sind ausreichende Kraft, Dehnfähigkeit, Koordination, Konzentration und damit auch Aufrichtung und Reflexhemmung nötig.
 
Du zeigst während des Kurses Behandlungen an mehreren Kindern ebenso wie die Anleitung der Eltern. Wie wichtig ist es, dass neben der osteopathischen Behandlung von Kindern auch die Eltern angeleitet werden und worin besteht diese Anleitung?
Das ist wie in der Schule. In der Schule wird der Stoff möglich gemacht und gezeigt, gelernt wird daheim. Ich bin der Ansicht, dass man die Eltern mit ins Boot holen muss. Für mich macht es keinen Sinn, feste Suturen am Kopf bei Stirnkopfschmerzen und alles andere, was wir sehen auch osteopathisch zu behandeln, und die Kinder verfallen zuhause in die runden Körperhaltungen beim Sitzen am Tisch, nachts oder beim Blick auf Medien. Eltern können und müssen zuhause Gewohnheiten verändern und Kraft, Dehnung und Koordination mit üben. Die Anleitungen dazu sind auf den Videos in meinem ersten Buch „Babynöte verstehen“ und auch in meinem neuen Buch „Neuromotorisch fit“ dargestellt.
 
Für deinen zweitägigen Kurs gibt es gegenwärtig nur noch wenig Plätze. Sind Folgekurse in München geplant, für diejenigen, die eine rechtzeitige Anmeldung für Juni verpasst haben?
Es sind weitere Kurse u.a. bei der hpO in München geplant. Mittlerweile ist die Nachfrage nach Vorträgen in Kindergärten, Schulen, bei Hebammen, Physiotherapeuten und Osteopathen so groß, dass ich es kaum noch bewältigen kann. Die ersten großen Einladungen zu Vorträgen bei Kongressen für Hebammen (im Sommer in München) und Heilpraktikern (im November in Nordrhein-Westfalen) sind für dieses Jahr bereits fest eingeplant. 
  
Dein Kurs richtet sich an Therapeuten, die mit Babys und Kindern arbeiten. Was können Eltern tun, um sich zu informieren?
Meine beiden Bücher „Babynöte verstehen“, erschienen 06/2014 und „Neuromotorisch fit“, erschienen 12/2017, beide im Trias-Verlag, sind Elternratgeber. Deswegen kann ich den Eltern besten Wissens empfehlen, sich die Bücher durchzulesen und mit ihren Kindern die Übungen zu machen, die seinem Verhalten entsprechend am besten passen. An Hand der wichtigsten Reflexe habe ich 9 Charaktere mit Kinderpersönlichkeiten und den dazu passenden Übungen beschrieben, mit denen die Eltern ihr Kind zuordnen können und damit die wichtigsten Übungen für ihr Kind selbst machen können.
Zudem hat es sich herausgestellt, dass auch Therapeuten verschiedenster Fachrichtungen total begeistert von ihnen sind.
 
Liebe Karin, vielen Dank für das Interview.
Ich danke Euch für die Möglichkeit!