Über vertane und künftige Chancen

Eine Frage hat in diesem so ungewöhnlichen und nun zu Ende gegangenen Jahr die Wissenschaft und Öffentlichkeit besonders beschäftigt: Wieso reagieren Patienten so unterschiedlich auf das Corona-Virus?

Wieso kann bei Patienten gleichen Alters der eine asymptomatisch bleiben, ein anderer leichte Erklärungssymptome zeigen, ein weiterer einen schwerwiegenden Krankheitsverlauf aufweisen und ein letzterer gar daran versterben?

Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür war der im Dezember in den "Annals of Internal Medicine" veröffentlichte Fallbericht von zwei 60-jährigen eineiigen Zwillingen aus Italien, beides Automechaniker in der gleichen Werkstatt, die unter der gleichen Adresse leben. Beide ohne Vorerkrankungen, ohne Bluthochdruck und beide Nichtraucher. Sie erkrankten zeitgleich an Corona, der eine erholte sich nach Fieber, trockenem Husten und Müdigkeit, der andere landete auf der Intensivstation und musste künstlich beatmet werden. Mittlerweile sind beide wieder genesen.

Warum wundert uns, die wir osteopathisch denken und handeln, dieses Beispiel nicht? Weil wir wissen, dass jeder Patient anders ist und es unserer grundsätzlichen Denkweise entspricht, jeden Patienten als Individuum zu diagnostizieren und zu behandeln. Es ist unter anderem dieses Wissen um die Einzigartigkeit jedes Patienten, das unser tägliches Arbeiten kennzeichnet und zu unseren Behandlungserfolgen beiträgt.

Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um ein osteopathisches Alleinstellungsmerkmal. Vielmehr teilen wir dieses Paradigma mit zahlreichen
anderen Naturheilverfahren, die wie wir ihre Patienten in ihrer jeweiligen Individualität wahrnehmen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb uns oben genanntes Beispiel nicht verwundert, und er ist eng mit dem erstgenannten verwoben. Denn in der Osteopathie bekämpfen wir nicht die Auslöser von Beschwerden und Erkrankungen, sondern wirken auf das Milieu, auf die Rahmenbedingungen ein, damit der Patient mit somatischen Dysfunktionen, Verletzungen, Traumata oder eben Erreger besser umgehen kann und zu seiner Gesundung zurückfindet. Und diese Rahmenbedingungen, auf die wir einwirken, unterscheiden sich eben von Patient zu Patient.

Die eingangs gestellte Frage, warum Patienten so unterschiedlich auf das Corona-Virus reagieren, ist für osteopathisch arbeitende Therapeuten daher eine rhetorische Frage, denn wir kennen die Antwort: Weil jeder Patient anders ist, selbst eineiige Zwillinge.

Die Corona-Pandemie, die uns trotz der Ende Dezember gestarteter Schutzimpfungen leider noch lange Zeit beschäftigen wird, wäre für uns alle, die wir die Osteopathie vertreten, eine große Chance gewesen, unser Verständnis von Krankheit und Heilung zu vermitteln.

Dabei geht es nicht darum, nun auch jene Infektionserkrankungen behandeln zu wollen, die das Infektionsschutzgesetz nur Ärzten gestattet, sondern darzustellen, warum im Interesse der Patienten eine krankheitszentrierte Medizin um eine personenzentrierte Medizin ergänzt werden sollte. Diese Chance haben wir nicht genutzt, kein Verband hat das getan.

Dass nach fast einem Jahr Pandemie Wissenschaft und Öffentlichkeit immer noch rätseln, warum Patienten so unterschiedlich auf das Virus reagieren, zeigt, dass unser Verständnis von Heilkunde noch lange nicht die notwendige Resonanz gefunden hat.

Es bleibt daher weiterhin viel zu tun. Das ist die Chance, die wir alle wahrnehmen sollten.

Als hpO werden wir auch in 2021 unseren Beitrag hierfür leisten: Über Fachartikel, die unsere Mitglieder verfassen, über unseren Newsletter, den unser Redaktionsteam regelmäßig für Patienten erstellt und über Beiträge, die wir auf unserer Website veröffentlichen.

Christoph Newiger
2. Vorsitzender hpO