Koordination Zahnmedizin und Osteopathie – Hand in Hand. Osteopathische Vor- und Nachsorge bei einer Implantatsetzung

Für manche Menschen ist der Gang zum Zahnarzt eine eher ungeliebte Notwendigkeit, die gerne so lange wie möglich hinausgezögert wird. Durch regelmäßiges Zähneputzen, professionelle Zahnreinigung und die tägliche Verwendung von Zahnseide und Dentalbürstchen wird die Zahngesundheit erheblich unterstützt. Doch selbst bei bester Vorsorge und Pflege kann die Notwendigkeit eines Zahnersatzes bestehen. Insbesondere wenn einzelne Zähne nicht mehr durch Füllungen oder Kronen zu versorgen sind, wird häufig das Einsetzen eines Implantats empfohlen.
 
Osteopathische Behandlungen bieten – ergänzend zu zahnärztlichen Eingriffen – einige Möglichkeiten, positiv auf die Situation des Patienten einzuwirken. Ein besonderes Augenmerk wird auf die muskuläre Balance, das venöse und lymphatische Flüssigkeitssystem und das Nervensystem gelegt. Schwellungen, Entzündungen und Schmerzen lassen sich mit Osteopathie teilweise gut beeinflussen, woraus sich Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Vor- und Nachbehandlung im Zusammenhang mit einem Zahnersatz ergeben.
 
Implantat – kurz erklärt
Eine Möglichkeit, nicht erhaltungswürdige Zähne zu ersetzen, ist das Zahnimplantat. Dabei wird ein dübelartiger Implantatkörper, meist aus Titan, im Kieferknochen verankert. Auf diese künstliche „Zahnwurzel“ wird dann der Zahnaufbau in Form einer Prothese, Krone oder Brücke gesetzt. In der Regel erfolgt dieser Eingriff ambulant und wird unter einer örtlichen Betäubung vorgenommen.
 
Den bestmöglichen Zeitpunkt zum Einsetzen von Zahnimplantaten wird der Zahnarzt von vorhandenen bzw. vorab zu behandelnden Zahn- oder Zahnfleischerkrankungen abhängig machen. Auch eine Bisskontrolle und gegebenenfalls -korrektur sorgt dafür, den späteren Zahnersatz in Hinblick auf einen optimalen Kieferschluss anzupassen. Nach drei bis sechs Monaten, wenn das Implantat fest mit dem Kieferknochen verwachsen ist, wird das Verbindungsstück und die neue Zahnkrone oder Brücke eingesetzt.
 
Osteopathie – kurz erklärt
Der Begründer der Osteopathie, Andrew Taylor Still (1828 – 1917) beschrieb in seinen Texten einige Prinzipien, die das heutige Denken in der Therapie geprägt haben. „Das Leben ist ein Fluß“ und „Die Rolle der Arterie ist absolut“ hebt die Bedeutung der Transport- und Zirkulationsstrukturen hervor. Der Zufluss sauerstoff- und nährstoffreicher Flüssigkeit zu den einzelnen Zellen wird durch ein ungehindertes Fließen in den Arterien ermöglicht. Den Abtransport verbrauchter Stoffe übernehmen Venen, die zusätzlich von den Lymphbahnen unterstützt werden. So entsteht im Körper ein Gleichgewicht der Ver- und Entsorgung von Flüssigkeiten und der darin enthaltenen Nährstoffe.
 
„Struktur und Funktion bedingen sich gegenseitig“ bedeutet, dass sich Körperstrukturen, wie z. B. Knochen, Muskeln und Organe, und die Art und Weise der Nutzung oder Beanspruchung wechselseitig beeinflussen. Vereinfacht dargestellt kann eine einseitige Belastung einen Knochen dauerhaft verändern. Ein veränderter Knochen in Form oder Lage kann wiederum den Ablauf einer Bewegung verändern. Viele dieser Abhängigkeiten von Struktur und Funktion sind auch in der Zahnmedizin bekannt und werden bei diversen Anwendungen bereits genutzt (z. B. Bissregulationen in der Kieferorthopädie). Hierbei spielt der ungehinderte Signalaustausch über das Nervensystem eine essentielle Rolle oder kann auch selbst zur Ursache der gegenseitigen Beeinflussung werden. „Der Körper ist eine Einheit“ unterstreicht als weiteres Prinzip diese Zusammenhänge.
 
„Der Körper reguliert sich selbst“ stellt schließlich die Fähigkeit des Körpers in den Vordergrund, auf alle Anforderungen adäquat zu reagieren und wenn ein Schaden verursacht wurde, diesen zu reparieren. Voraussetzung dafür ist ein ungehinderter Blut und Informationsfluss über Gefäße und Nerven, eine freie Beweglichkeit und störungsfreie Systeme, wie z. B. Immunsystem und Hormonhaushalt.
 
Vereinfacht ausgedrückt sollte der Therapeut die Störung finden, welche die natürlichen Abläufe behindert und sie entfernen – den Rest erledigt der Körper selbst. Nach dem Motto von Still: „Find it, fix it and leave it alone…!“ (frei übersetzt: finde sie, beseitige sie und lass sie dann in Ruhe).
 
Vor dem zahnärztlichen Eingriff
Ein entspannter Patient mit perfekter Zirkulation der Flüssigkeiten, mit gut funktionierendem Immunsystem und ausreichend vorhandenen Knochenmaterial in guter Qualität – so oder so ähnlich dürfte sich ein Zahnarzt seinen Patienten wünschen.
 
Das Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde schützt den Patienten, indem es dafür sorgt, dass nur qualifizierte Personen (Zahnärzte) Zahnheilkunde ausüben dürfen. Gleichzeitig verwehrt es jedoch dem Zahnarzt, in Bereichen des Körpers tätig zu werden, die außerhalb des zahnmedizinischen Tätigkeitsfeldes liegen. In der Zahnmedizin werden größtenteils die physiotherapeutischen Kompetenzen bereits genutzt. Was geschieht jedoch, wenn diese Maßnahmen nicht zum gewünschten Ergebnis führen oder gar im Vorfeld größere Veränderungsprozesse sichtbar werden?
 
Hier kommt die Kompetenz der Osteopathie ins Spiel. Führen beispielsweise Spannungsveränderungen des knöchernen Kraniums selbst zur permanenten Tonuserhöhung der Kiefer- oder der Halsmuskulatur? Bringen Spannungsveränderungen des Thorax die infra- und suprahyoidale Muskulatur in Schwierigkeiten? Ist der venöse Abtransport gestört, da der notwendige Unterdruck im Brustkorb nicht gut genug aufgebaut werden kann, und somit die Venen es nicht schaffen, die Flüssigkeit aus dem Gewebe abzutransportieren? Oder ist die Vena jugularis durch Narbengewebe nach einer Schilddrüsen-OP verlegt? Hat bereits der Gedanke an den bevorstehenden Eingriff die Stressachsen aktiviert und das sympathische Nervensystem und die Nebennieren in Alarmbereitschaft versetzt? In der osteopathischen Behandlung vor einem bevorstehenden Eingriff geht es jedenfalls um weitaus mehr als die augenscheinlich naheliegenden Systeme.
 
Daher stellt sich gleich am Anfang die Frage der zeitlichen Planung, denn nicht alle Einschränkungen sind in kurzen Abständen korrigierbar. Je nach Dringlichkeit des bevorstehenden Eingriffes und dem Befund der osteopathischen Untersuchung ist eine genaue Absprache und Koordination der therapeutischen Möglichkeiten wichtig.
 
Nach dem zahnärztlichen Eingriff
Mit dem Eingriff ändern sich die Symptome und es sind andere Maßnahmen erforderlich, um Komplikationen vorzubeugen. Zwangsweise entsteht eine Wunde, das Gewebe ist meist etwas geschwollen und eventuell sind Schmerzen vorhanden. Hämatome können sich ausprägen und die Gefahr von Entzündungen und Infektionen steigt.
 
Die Gabe von Schmerzmitteln belastet die Leber und der gegebenenfalls nötige Einsatz von Antibiotika greift den Magen-Darmtrakt an. Teilweise ist eine nicht vermeidbare Belastung der Wirbelsäule oder Hals- und Kiefermuskulatur des Patienten durch Lagerung oder Gegen-Halte-Druck während des Eingriffs entstanden. Auch kann eine längere aktive Mundöffnung diese Probleme ausgelöst haben.
 
Natürlich liegt der Hauptfokus der osteopathischen Behandlung jetzt auf der begleitenden Akutversorgung, wobei jedoch der Gedanke der ursächlichen Störung nicht aus dem Auge verloren wird. Ein verbesserter Abtransport von Gewebswasser hilft, Schmerzen zu mindern und damit die Einnahme von belastenden Schmerzmitteln zu reduzieren. Weiter sinkt auch die Gefahr des Auftretens von Komplikationen, wie Entzündungen und Infektionen. Die Wundheilung wird so gefördert und schafft eine gute Voraussetzung für eine unauffällige und möglichst störungsfreie Narbenbildung.
 
Ein häufig etwas versteckter, aber nicht minder wichtiger Aspekt ist das vegetative Nervensystem. Die Wunde selbst und auch die mit Eingriffen verbundene psychische Anspannung des Patienten aktivieren das sympathische Nervensystem und somit die Stressachsen. Physiologisch sicher eine gute Reaktion, die dem Immunsystem hilft, aktiv zu werden. Eine zu heftige Immunreaktion kann jedoch negative Auswirkungen auf die Spannungssituation der Muskulatur, die Gefäßwiderstände und folglich auf den Heilungsverlauf bis hin zu weiteren Störungen, zum Beispiel im Magen-Darmtrakt, haben.
 
Osteopathische Behandlungsmöglichkeiten und Verfahren
Neben den typischen Strukturen des Kiefergelenks selbst, der Gelenkkapsel, der Bänder und Muskulatur, deren Behandlung häufig schon durch die Physiotherapie abgedeckt sind, gibt es einige weitere beachtenswerte Bereiche. Kiefergelenknah spielt neben Mundboden und Zungenmuskulatur auch der gesamte Komplex der Halsviszera eine zentrale Rolle. Als Teil der in der Osteopathie bezeichneten „zentralen Sehne“ sind die verschiedenen Faszienschichten der oberflächigen, tiefen und hinteren Bindegewebsumhüllungen nicht nur für die Kraftübertragungen auf das Kiefergelenk, sondern auch für die statische Situation der Halswirbelsäule von großer Bedeutung.
 
Sogar Zungenbewegungen – nicht selten unbewusst durchgeführt – wirken sich über diese Wege bis in den Schultergürtel aus. Häufig verstärken sich diese kompensatorischen Verhaltensweisen in den Tagen vor dem geplanten Zahnarzttermin. Mit „Muskel-Energie-Technik“ (MET) bzw. „isometrischen“ Techniken lässt sich den Kompensationsfolgen gut entgegenwirken und der Patienten kann – mit einfachen Methoden angelernt – selbst zur Entspannung beitragen.
 
Ein weiteres Verfahren in der Osteopathie ist das „Unwinding“ (frei übersetzt: entspannen, abwickeln oder entwirren). Ähnlich wie bei einem Knoten, der durch das Schieben der Enden Richtung Zentrum gelöst wird, nutzt der Therapeut die Gewebsspannungen und führt eine Annäherung der Gewebe durch, um sie zu lösen. Bevorzugt eingesetzt wird das „Unwinding“ lokal zur Spannungsreduzierung an sensibler Muskulatur, an Nervenaus- und –durchtrittsstellen sowie zur Durchblutungsregulation.
 
Über die direkte Behandlung der Nieren und Nebennieren unterstützt die Osteopathie den Hormon- und Wasserhaushalt des Körpers. Der Magen-/Darmtrakt und die Leber stehen ebenfalls im Fokus, da eine Mobilisierung dieser Bereiche nicht nur Auswirkung auf ihre Organfunktionen hat, sondern zusätzlich die Beweglichkeit des Zwerchfells verbessert. Eine ungehinderte Zwerchfellfunktion wiederumkann, wie bereits beschrieben, den Abfluss aus dem Kopf- und Kieferbereich verbessern.
 
Nur kurz hingewiesen sei abschließend auch auf die Vielzahlmechanischer Verbindungen zum Kiefergelenk. Über Muskel und Faszienketten steht nahezu jede Störung von Kopf bis Fuß und umgekehrt in einem engen Zusammenhang. Gleiches gilt für immunologische Vorgänge und neurologische Komponenten, die jede für sich genommen einen eigenen Artikel füllen könnten.
 
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Das gemeinsame Wirken von Zahnmedizin und Osteopathie bei zahnärztlichen Eingriffen hat viele positive Effekte. In der Praxis bestätigt sich, dass eine gute Abstimmung der Disziplinen bereits während der Vorbereitung eines Eingriffs die Durchführung erleichtert. Ungewollte körperliche und psychische Folgen vermeiden – kurz: ein schneller und folgenloser Heilungsverlauf – ist das Ziel der koordinierten Behandlung.
 
So wie die Osteopathie ein eigenständiger Bestandteil der Naturheilkunde ist, so ist die Zahnmedizin ein eigenständiger Bestandteil der wissenschaftlich orientierten Medizin. Eine Voraussetzung, die Stärken der beteiligten Therapeuten in vollem Umfang nutzen zu können, ist die Bereitschaft, sein eigenes spezialisiertes Denken und Handeln in den Kontext zu weiteren Disziplinen zu stellen. Die Osteopathie bietet teilweise Lösungen, die es sinnvoll machen, die zahnärztliche Intervention zurückzustellen. Ebenso gibt es Situationen, bei denen eine Behandlung im osteopathischen Sinne nicht das erste Mittel der Wahl ist.
 
Der gemeinsame Patient wird die Zusammenarbeit im Sinne einer umsichtigen und fachübergreifenden Beratung und Behandlung zu schätzen wissen.
 
Gunther Pohl
Heubergstr. 23
83059 Kolbermoor
www.praxis-gpohl.de

Gunther Pohl

Gunther Pohl ist Heilpraktiker mit Schwerpunkt Osteopathie und eigener Praxis in Kolbermoor (Landkreis Rosenheim). Das Mitglied der Berufsvereinigung für heilkundlich praktizierte Osteopathie e.V., hpO, arbeitet seit Jahren mit Zahnärzten zusammen, was ihm einen intensiven fachlichen Austausch über das Patientenbefinden vor, während und nach zahnärztlichen Eingriffen ermöglicht.